Marie von Ebner-Eschenbach

M.v. Ebner Eschenbach wurde als Freiin von Dubsky am 13.9.1830 auf Schloß Zdislawic/Mähren geboren (ab 1843 war sie Gräfin). Sie lebte von 1848-1850 in Wien, bis 1856 in Klosterbruck bei Znaim, danach in Wien und Zdislawic. Seit 1858 begann sie schriftstellerisch zu arbeiten zunächst jedoch erfolglos. Erst 1876 hatte sie die ersten Erfolge mit dem Vorabdruck des Kurzromans "Božena", der in der Deutschen Rundschau veröffentlicht wurde. Sie konzentriert sich nun auf ihre erzählerischen Dichtungen, in denen Güte und soziale Anteilnahme, aber ebenso ein waches politisches Bewußtsein Ausdruck finden.
Nach der Veröffentlichung der Erzählung "Lotti. Die Uhrmacherin" 1880 (1879 machte sie selbst eine Uhrmacherin-Ausbildung) in der "Deutschen Rundschau", öffnen sich ihr die Türen der Verlage, und sie wird in den kommenden Jahren zu einer der berühmtesten deutschsprachigen Autorinnen. Ihre "Aphorismen" erscheinen. 1898 wurde sie mit dem höchsten Zivilorden Österreichs, dem Ehrenkreuz für Kunst und Literatur, ausgezeichnet und war 1900 erster weiblicher Ehrendoktor der Wiener Universität. Am 12.3.1916 starb sie in Wien.

Aphorismen

Sag etwas, das sich von selbst versteht,
zum erstenmal,
und du bist unsterblich.
Was uns an der sichtbaren Schönheit entzückt,
ist ewig nur die unsichtbare.
Die verstehen sehr wenig,
die nur das verstehen,
was sich erklären läßt.
Es hat noch niemand etwas Ordentliches geleistet,
der nicht etwas Außerordentliches leisten wollte.
Die meiste Nachsicht übt der,
der sie am wenigsten braucht.
Wer sich seiner eigenen Kindheit
nicht mehr deutlich erinnert,
ist ein schlechter Erzieher.
Man muß das Gute tun,
damit es in der Welt sei.
Die Güte, die nicht grenzenlos ist,
verdient den Namen nicht.
In der Jugend lernt,
im Alter versteht man.
In einem guten Buche stehen mehr Wahrheiten,
als sein Verfasser hineinzuschreiben meinte.
Natur ist Wahrheit;
Kunst ust due höchste Wahrheit.
Es gibt Menschen mit leuchtendem
und Menschen mit glänzendem Verstande.
Die ersten erhellen die Umgebung,
die zweiten verdunkeln sie.
Es würde sehr wenig Böses
auf Erden getan werden,
wenn das Böse niemals
im Namen des Guten
getan werden könnte.
Die Menschen, denen wir eine Stütze sind,
geben uns den Halt im Leben.
Es gibt eine schöne Form der Verstellung:
die Selbstüberwindung-
und eine schöne Form des Egoismus:
die Liebe.
Wenn man das Dasein als eine Aufgabe betrachtet,
dann mag man es immer zu ertragen.
Es stände besser um die Welt,
wenn die Mühe,
die man sich gibt,
die subtilsten Moralgesetze auszuklügeln,
zur Ausübung der einfachsten angewendet würde.
Man kann nicht helfen!
sagt der Engherzige und- hilft keinem.
Wenn ein edler Mensch sich bemüht,
ein begangenes Unrecht gutzumachen,
kommt seine Herzensgüt
am reinsten und schönsten zutage.
Verständnis des Schönen
und Begeisterung für das Schöne sind eins.
Auch was wir am meisten sind,
sind wir nicht immer.
Wer Geduld sagt,
sagt Mut, Ausdauer, Kraft.
Was ein Mensch glaubt und woran er zweifelt,
ist gleich bezeichnend
für die Stärke seines Geistes.
Merkmale großer Menschen ist,
daß sie ab andere
weit geringere Anforderungen stellen
als an sich selbst.
Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschen.
Unter seinem Hauche entfalten sich ihre Seelen.
Wenig Leidenschaft, große Herzenswärme,
Verstand, Anmut,
leichte Umgangsformen,
Respekt vor dem Ernst,
Verständnis für den Scherz
- summa sumarum:
Liebenswürdigkeit.
Wer es versteht,
den Leuten mit Anmut
und Behagen Dinge auseinanderzusetzen,
die sie ohnehin wissen,
der verschafft sich am geschwindesten
den Ruf eines gescheiten Menschen.
Zu jeder Zeit
liegen einige große Wahrheiten
in der Luft;
sie bilden die geistige Atmosphäre
des Jahrhunderts.
Was nennen die Menschen am liebsten als dumm?
Das Gescheite, das sie nicht verstehen.
Ein Gedanke kann nicht erwachen,
ohne andere zu wecken.
Wenn die Großmut vollkommen sein soll,
muß sie eine kleine Dosis Leichtsinn enthalten.
Es gehört immer etwas guter Wille dazu,
selbst das Einfachste zu begreifen,
selbst das Klarste zu verstehen.
Du wüßtest gern,
was deine Bekannten von dir sagen?
Höre, wie sie von Leuten sprechen,
die mehr wert sind als du.
Im Laufe des Lebens
verliert alles seine Reize wie seine Schrecken;
nur eines hören wir nie auf zu fürchten:
das Unbekannte.
Mut des Schwachen,
Milde des Starken
- beide anbetungswürdig!
Die Großen schaffen das Große,
die Guten das Dauernde.
Der Verstand und das Herz stehen auf sehr gutem Fuße.
Eines vertritt oft die Stelle des andern so vollkommen,
daß es schwer ist zu entscheiden,
welches von beiden tätig war.
Kein Mensch steht so hoch,
daß er anderen gegenüber nur gerecht sein dürfte.
Wenn die Zeit kommt,
in der man könnte,
ist die vorüber,
in der man kann.
Sagen was man denkt,
ist manchmal die größte Torheit
und manchmal
- die größte Kunst.
Wieviel Bewegung wird hervorgebracht
durch das Streben nach Ruhe!
Den Strich,
den das Genie in einem Zuge hinwirft,
kann das Talent in glücklichen Stunden
aus Punkten zusammensetzen.
Vieles erfahren haben,
heit niche nicht Erfahrung zu besitzen.
In jede hohe Freude
mischt sich eine Empfindung
der Dankbarkeit.
Nicht was wir erleben,
sondern wie wir empfinden,
was wir erleben,
macht unser Schicksal aus.
Ein ganzes Buch -
ein ganzes Leben.
Nichts lernen wir so spät
und verlernen wir so früh,
als zugeben,
daß wir unrecht haben.
Jeder Dichter und alle ehrlichen Dilettanten
schreiben mit ihrem Herzblute,
aber wie diese Flüssigkeit beschaffen ist,
darauf kommt es an.
Überlege einmal, bevor du gibst,
zweimal, bevor du annimmst,
und tausendmal, bevor du verlangst.
Der Maßstab, den wir an die Dinge legen,
ist das Maß unseres eigenen Geistes.
Ein einziges Wort verrät uns manchmal
die Tiefe eines Gemüts,
die Gewalt eines Geistes.
Was noch zu leisten ist,
das bedenke;
was du schon geleistet hast,
das vergiß.
Treue üben ist Tugend,
Treue erfahren ist Glück.
Wir sind für nichts so dankbar
wie für Dankbarkeit.
Aus dem Mitleid mit anderen erwächst die feurige,
die mutige Barmherzigkeit;
aus Mitleid mit uns selbst die weichliche,
feige Sentimentalität.
Nur die allergescheitesten Leute
benützen ihren Scharfsinn nicht bloß zur Beurteilung anderer,
sondern auch ihrer selbst.
Nächstenliebe lebt mit tausend Seelen,
Egoismus mit einer einzigen,
und die ist erbärmlich.
Rücksichtslosigkeiten, die edle Menschen erfahren haben,
verwandeln sich in Rücksichten,
die sie erweisen.
Wenn wir nur noch das sehen,
was wir zu sehen wünschen,
sind wir bei der geistigen Blindheit angelangt.
Wenn jeder dem andern helfen wollte,
wäre allen geholfen.
Das Gemüt bleibt jung,
solange es leidensfähig bleibt.
Man muß schon etwas wissen,
um verbergen zu können,
daß man nichts weiß.
Die Gelassenheit ist
eine anmutige Form
des Selbstbewußtseins.
Begreifen-
geistiges Berühren,
Erfassen-
geistiges Sichaneignen.
Der Weltmann kennt gewöhnlich die Menschen,
aber nicht den Menschen.
Beim Dichter ist's umgekehrt.
Tugend und Gelehrsamkeit haben nichts miteinadner gemein,
heißt es.
Seht aber zum
wohin es mit eurem moralischen Fortschreiten kommt,
wenn ihr von dem geistigen Fortschteiten eurer Zeit keine Notiz nehmt.
Die Änderung,
die unser Naturell im Laufe des Lebens erfährt,
sieht manchmal aus wie eine Änderung unseres Charakters.
Erinnere dich der Vergessenen
- eine Welt geht dir auf.
Man bleibt jung solange man noch lernen,
neue Gewohnheiten annehmen und einen Widerspruch ertragen kann.
Da zuletzt doch alles auf den Glauben hinaufläuft,
müssen wir jedem Menschen das Recht zugestehen,
lieber das zu glauben,
was er sich selbst,
als was andere ihm weisgemacht.
Gutmütigkeit ist eine alltägliche Eigenschaft,
Güte die höchste Tugend.
In der Jugend meinen wir,
das Geringste,
das die Menschen uns gewähren können,
sei Gerechtigkeit.
Im Alter erfahren wir,
daß es das Höchste ist.
Die Menschen der alten Zeit
sind auch die der neuen,
aber die Menschen von gestern
sind nicht die von heute.
Frieden kannst du nur haben,
wenn du ihn gibst.
Die allerstillste Liebe
ist die Liebe zum Guten.
Soweit deine Selbstbeherrschung geht,
so weit geht deine Freiheit.
Nur der Denkende erlebt sein Leben,
am Gedankenlosen zieht es vobei.
Mißtraue deinem Urteil,
sobald du darin den Schatten
eines persönlichen Motivs entdecken kannst.
Wer völlig vorurteilslos ist,
muß es auch gegen das Vorurteil sein.
Wir unterschätzen das,
was wir haben,
und überschätzen das,
was wir sind.
Nenne dich nicht arm,
weil deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind;
wirklich arm ist nur,
der nie geträumt hat.
Am Ziele deiner Wünsche
wirst du jedenfalls eines vermissen:
dein Wandern zum Ziel.
Was ist Reue?
Eine große Trauer darüber,
daß wir sind,
wie wir sind.
In der Fähigkeit,
einen edlen Wunsch intensiv
und heiß zu nähren,
liegt etwas wie Erfüllung.
Alles Wissen geht aus einem Zweifel hervor
und endigt in einem Glauben.
Der einfachste Mensch
ist immer noch ein sehr kompliziertes Wesen.
Viele Worte sind lange zu Fuß gegangen,
ehe sie geflügelte Worte wurden.
Es gäbe keine soziale Frage,
wenn die Reichen
von jeher Menschenfreunde gewesen wären.
Wir suchen die Wahrheit,
finden wollen wir sie aber nur dort,
wo es uns beliebt.
Es gibt leider nicht nicht sehr viele Eltern,
deren Umgang für ihre Kinder wirklich ein Segen ist.
Es gibt kein Wunder für den,
der sich nicht wundern kann.
Eine stolz getragene Niederlage
ist auch ein Sieg.
Ohne Phantasie keine Güte,
keine Weisheit.
Die Moral,
die gut genug war für unsere Väter,
ist nicht gut genug für unsere Kinder.
Die kleinen Miseren des Lebens
helfen uns manchmal über sein großes Elend.
Es entmutigt oft den wärmsten Menschenfreund,
daß er so viel Hilfbedürftigen begegnet,
denen nicht zu helfen ist.
Der Wunsch ist der Vater der Hoffnung.
Man sollte nicht sprechen von der Kunst,
glücklich zu sein,
sondern von der Kunst,
sich glücklich zu fühlen.
Das ist meine Weltanschauung,
wer aber die gegenteilige hat,
kann weise sein,
sagt der Weise.
Das ist meine Weltanschauung,
und wer eine andere hat,
ist ein Tor,
sagt der Tor.
Der gesunde Menschenverstand
ist der größte Feind de Phantasie
und doch ihr bester Berater.
Frei sein von Vorurteilen-
erste Bedingung der Nächstenliebe.
Je einfacher das Problem,
desto tiefer muß es gefaßt werden.
Der sich nicht weh tun kann,
wird andern nie wohl tun.
Nur der Starke kann verzeihen,
der Schwächling wird immer nachtragen.
Vervollkommnung deiner selbst erreichst du nur
durch Unzufriedenheit mit dir selbst.


Monika Hubl-Moussa

Dichter & Denker:   Index
Busch  Ebner‑Eschenbach  Feuchtersleben  Fontane  Goethe  Gibran  Lichtenberg  Lindbergh  Morgenstern  Novalis  Saint ‑ Exupéry  Schiller  Schlegel  Voltaire  Wilde  andere
Geschichte der Literatur    Inhaltsverzeichnis    Startseite   Copyright & Impressum