Voltaire

Aphorismen

Das Leben scheint doch eine sehr angenehme Sache zu sein-
denn, so schwer es sich bisweilen auch ertragen läßt:
Wir lieben es alle!

Größte Bewunderung flößt mir die Lehre des Zarathustra ein,
die lautet:
"Tue gar nichts,
wenn du dir nicht darüber im, klaren bist,
ob deine Handlung gut oder schlecht ist."

Beurteile einen Menschen eher nach seinen Fragen
als nach seinen Antworten.

Was auf Erden das wichtigste ist?
Toleranz.

Der Hauptgrundsatz des menschlichen Rechts,
das auf der Erde gelten müßte, lautet:
"Was du nicht willst,
das man dir tu,
das füg auch keinem andern zu."
Dies soll jedoch nicht bedeuten,
daß ein Mensch zum andern sagen darf:
"Wenn du an denselben Gott glaubst,
an den ich glaube,
so geschieht dir nichts."

Was bedeutet Toleranz?
Daß wir uns gegenseitig unsere Irrtümer verzeihen.
Das ist ein Hauptgesetz der Natur.

Was könnte uns-
soweit dies in Anbetrach
unserer bescheidenen Anlagen überhaupt möglich ist-
glückselig machen?
Nachsicht.

Wer ist wohl der wahre Gottesverehrer?
Derjenige, der zu Gott spricht,
ich verehre dich und diene dir,
oder jener, der zu
Chinesen, Indern, Russen und Türken sagt:
"Ich liebe euch?"

Ein Vorurteil ist eine Meinungm,
die nicht auf Erfahrung gründet.
Insofern bringt man Kindern überall auf der Welt Meinungen bei,
bevor sie selber zu urteilen vermögen-
also Vorurteile.

Ich selbst werde nicht mehr
die Früchte des Baumes der Toleranz genießen,
den ich gepflanzt habe.
Doch ihr werdet eines Tages von ihm essen.
Darauf könnt ihr euch verlassen.

Man denke sich die Erde von nur zwei Menschen bewohnt:
Sie werden nur das gut und gerecht nennen,
was für sie beide ntzlich ist.
Man stelle sich vier Menschen vor,
und es wird ebenso seon...
Wie sollte es sich da,
was die gesamte Weltbevölkerung angeht,
sehr anders verhalten?

Wenn es stimmt, daß die Tyrannen der Welt so viel Böses tun,
wie ihnen nur möglich ist,
warum tut ihr, die ihr rechtschaffene Menschen sein wollt,
dann nicht alles Gute,
was euch möglich ist?

Es könnte der Menschheit nichts Besseres geschehen, als von Philosophen regiert zu werden.

Die Ursache aller Streitigkeiten
ist Dummheit auf beiden Seiten.

Alle Menschen haben,
ohne sich dessen bewußt zu sein,
nur eine Religion.
Wir sind Kinder,
die in verschiedenen Sprachen zum gleichen Vater sprechen.

Die Religion ist die Stimme Gottes,
die zu allen spricht.
Sie will die Menschen vereinen,
nicht sie trennen.

Zu einem angenehmen Leben braucht es nicht Gold und Silber,
sondern nur Geist.

Aristoteles hatte vollkommen recht:
"Der Weisheit Anfang ist der Zweifel."

Nichts ist länger als die Zeit,
denn sie ist das Maß der Ewigkeit;
und nichts ist kürzer als sie,
denn sie fehlt uns an allen Ecken und Enden.
Nie vergeht sie für den Ungeduldigen schnell genug,
und nie verweilt sie dem Glücklichen lang genug.
Ins Unermeßliche dehnt sie sich im großen Raum
und unwahrnehmbar zerfällt sie in kleinste Teile.
Jeder von uns verschwendet,
und jeder bedauert ihren Verlust.
Nichts geschieht ohne ihre Mitwirkung.
Ins Meer des Vergessens versenkt sie,
was für kommende Geschlechter ohne Bedeutung ist,
doch allen, was wahrhaft groß und von Wert ist,
schenkt sie ewiges Leben.

Das Schicksal, das uns leitet,
ist der Verstand.



Monika Hubl-Moussa

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